Gefangen in der Polarität
Als empfindsames Wesen sind wir vielfältigen Einflüssen von anderen ausgesetzt. Darüber hinaus gibt es einen kollektiven Einfluss, der sich ganz konkret in gesetzlichen Normen manifestiert. Sofern wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, haben wir über Wahlen, Demonstrationen und über die Bildung von politischen Gruppen einen gewissen Einfluss auf diese Normen. Dies alles ist das sichtbare Feld. Es gibt allerdings auch – wie bei einem Eisberg, der im Wasser schwimmt – ein nicht sichtbares Feld unter der Oberfläche. Dieses macht wie beim Eisberg 90 Prozent der eigentlichen Struktur aus. Dies ist die subtile Ebene des Gitternetzes der Realität.
Nicht sichtbar ist dies nur für diejenigen, die flüchtig hinschauen und sich nicht für die Strukturen hinter den Strukturen interessieren.
Die Suche danach ist mühsam, sie verändert die eigene Realität. Es ist einfach, auf der Oberfläche zu bleiben und sich anhand der begrenzten Weltsicht allerlei Verschwörungen herzuleiten. Viel anstrengender ist es, das eigene Mindset zu hinterfragen und tiefer zu schauen.
Der individuelle Einfluss auf die Realität ist immens. Er fällt einem nicht in den Schoß.
Es gibt eine Falle, in die diejenigen tappen, die sich an den Rand gedrängt fühlen. Der Randbereich bedeutet gesellschaftliche Ausgrenzung. An der Außenkante kann es gefährlich sein, ein Sturz nach unten ist möglich. Viel sicherer lebt es sich in der Mitte, dort kann einem so gut wie nichts passieren. Die – aus welchem Grund auch immer – Abgedrängten sehen sich manchmal genötigt, eine Art Schicksalsgemeinschaft zu bilden. Aus diesem vermeintlichen Kollektiv heraus versuchen sie, ein neues Zentrum zu schaffen, an dessen Rändern sich dann die vorherige Mitte wiederfinden soll.
Diesem Ansinnen liegen zwei Fehleinschätzungen zu Grunde.
Die erste ist, dass geglaubt wird, in die Mitte der Gesellschaft zu gehören. Tatsächlich hält sich in der Mitte die konforme, unbewegliche Masse auf. Hier finden keine gesellschaftlichen Impulse statt. Wer zur Mitte strebt, ist tendenziell reaktionär und rückwärts gerichtet. Wer Veränderung will, muss im Randbereich bleiben. Das Abdrängen an den Rand ist kein „Unfall“ oder eine ungerechtfertigte Maßnahme. Es ist ein Qualitätsmerkmal – nicht im inhaltlichen Sinne, sondern im Sinne des eigenen Einflusses.
Zum anderen wird nicht erkannt, dass ein Abdrängungsprozess immer auf Gegenseitigkeit beruht. Das Gefühl, nicht dazu zu gehören, ist weder exklusiv noch von vornherein festgelegt. Wer dazu gehört und wer nicht entscheidet jedeR für sich selber, individuell. Niemand von Außen kann einem diese Haltung aufzwingen. Die eigene Haltung macht den Unterschied aus, ob man Einfluss von Innen oder von Außen ausüben möchte.
Es sollte also nicht darum gehen, andere von der eigenen Haltung zu überzeugen. Vielmehr ist es die eigene Haltung, die sich so Anzupassen hat, dass sie ihren Einfluss gelten machen kann. Da wir nicht wissen, ob wir in die Welt geboren werden, oder die Welt in uns hinein geboren wird, können wir uns entscheiden.
Die Polarität zwischen zwei grundverschiedenen Haltungen ist ein Merkmal der politischen Welt. Politik ist nur in Polarität möglich. Die Polarität wiederum ist ein Teil des Mensch-Seins. Ob dieser Anteil ausschlaggebend ist, um sich Innen oder Außen zu positionieren, bleibt die eigene Entscheidung.
Die Abgedrängten verstehen oft nicht, dass die eigene Weltanschauung den entscheidenden Einfluss darauf hat, ob sie an den Rand gedrängt werden. Dies ist keine politische Frage sondern eine Frage der eigenen Würde und Flexibilität. Manche lassen sich einfangen in eine polare Weltsicht und arbeiten sich dann am Gegenüber ab. Sie merken nicht, dass sie dadurch zu Spielbälle oder Statisten derjenigen werden, die tiefer blicken und mehr durchschauen, weil sie sich unterhalb der sichtbaren Wasserlinie befinden.
Die Philosophie des Yoga beruht darauf, dass schlussendlich kein Innen und Außen existiert. Alle Trennung ist Illusion. Diese Haltung/Weltanschauung verhindert nicht die gesellschaftliche Ausgrenzung oder den politischen Konflikt. Sie ermöglicht aber einen unverfälschten Blick auf die Strukturen hinter den Strukturen, auf den Anteil des Eisbergs unter der Oberfläche. Und wer die Dinge erkennt so wie sie sind, der kann sie auch verändern.